Auf meiner Backpacker Reise durch Mittel-/Südamerika höre ich Anfang des Jahres zum ersten Mal vom europäischen Programm EVS (= European Voluntary Service), das vergangenes Jahr in ESC (= European Solidarity Corps) umbenannt wurde. EVS/ESC bietet jungen Menschen im Alter von 18-30 Jahren die Möglichkeit, eine Non-Profit Organisation (NGO) im europäischen Ausland für ein oder mehrere Monate als Freiwillige/r zu unterstützen. Reise-, Unterkunft- und Lebenshaltungskosten werden dabei von der EU getragen. Auf  der Webseite und facebook finden sich weitere Informationen zu aktuellen Projekten, Registrierung, Bewerbungsverfahren, Ablauf- und Erfahrungsberichte sowie offenen Ausschreibungen. 

Im März diesen Jahres muss ich durch Covid-19 meine Reise in Brasilien vorzeitig beenden. Zurück in Deutschland beginne ich mir die aktuellen Volunteer Calls/Aufrufe auf Facebook genauer anzusehen. Das Deep Roots 2020 Projekt sucht kurzfristig nach Freiwilligen für zwei Monate (59 Tage) in Kazanlak, Zentralbulgarien. Ich bewerbe mich und werde nach wenigen Tagen zum Videocall eingeladen. Eine andere Freiwillige interviewt mich und schnell steht fest, ich bin im Team. Das Programm nennt mir meine Sending Organisation in Deutschland, das Haus der offenen Tür in Sinzig. Mit meiner Ansprechpartnerin Petra kann ich noch offene Fragen klären und sie kümmert sich um meine Auslandsversicherung. Ich fühle mich top vorbereitet und buche den Flug nach Sofia für die darauffolgende Woche. Am 16. Juni geht es los.

Die Anreise klappt problemlos. Am Frankfurter Flughafen treffe ich Charlotte, eine weitere Deutsche im Team. Sie hat gerade ihr Abitur gemacht und war in Asien reisen, als Covid-19 sie zurück nach Deutschland zwang. Wir sind uns gleich sympathisch und erkunden zwei Tage gemeinsam die Hauptstadt Sofia, bevor es mit dem Bus ins Landesinnere nach Kazanlak geht. In der Villa Eltimir angekommen treffen wir unsere Familie für die kommenden Wochen: 20 andere Freiwillige aus Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Ungarn, Kolumbien, Pakistan, Bangladesch und dem Yemen. Die Stimmung ist herzlich und aufgeschlossen. 

In den ersten Tagen steht das Kennenlernen im Vordergrund. Die long-term Volunteers (5) haben verschiedene Aktivitäten wie eine Stadtführung für uns short-termer (17) vorbereitet, wir lernen uns kennen und fühlen uns schnell wohl. Den Corona Test bringen wir alle mit einem negativ Ergebnis hinter uns. Dem gemeinsamen Ziel, das diesjährige Eco Festival zu organisieren, steht somit nichts mehr im Wege. 

Jeder Freiwillige bekommen wöchentlich Geld für Nahrungsmittel (food money). Da gemeinsam zu kochen günstiger und mit nur zwei Küchen für 22 Mitbewohner einfacher ist, bilden wir Kochteams nach Essgewohnheiten. Nach und nach strukturieren wir unser Zusammenleben und fühlen uns bald wie eine richtige Familie. 

In den ersten drei Wochen beschäftigen wir uns in drei rotierenden Gruppen mit Journalismus, Video/Fotografie und Kochen. Wir schreiben Artikel für die Webseite unsere Gastgeber/Host Organisation. Auf theyouth.info veröffentlichen wir Blog und Tagebuchaufzeichnungen unserer täglichen Aktivitäten und geben Einblicke in das Deep Roots Projektgeschehens. Wir berichten von unseren Heimatländer, unseren Erfahrungen in Bulgarien mit Land & Leuten, klären über ökologischen Themen auf und diskutieren auch die Corona Regelungen in unseren Heimatländern. Wir drehen und schneiden unsere ersten eigenen Kurzfilme, einen Eco Movies und mehrere Kochvideos, die wir im Rahmen eines Open Air Kinoabends der lokalen Bevölkerung präsentieren. Für die Kochvideos einigen wir uns im Vorfeld auf landestypische Gerichte. Die jeweiligen oder ähnliche Zutaten im lokalen Supermarkt zu finden, gestaltet sich mit der Sprachbarriere und dem bulgarischen kyrillischem – für uns eher kryptischen – Alphabet dann als äußert schwierig. Im Video zeigen wir die Zubereitungsabfolge, damit sich ein jedermann am französischen Nationalgericht Crepe oder dem dem arabischen Reisgericht Kabsa probieren kann und auf den Geschmack kommt.

Unser Zusammensein ist von viel guter Laune, Lachen und dem damit einhergehenden Lärm geprägt. In unserem Haus ist immer was los. Oft kochen, spielen, singen wir bis spät in die Nacht. Der Kolumbianer Carlos bringt uns für einen geplanten Flashmob Salsa tanzen bei. Ich biete wöchentliche Yoga- & Achtsamkeitseinheiten an. Jeder bringt sich auf seine Art ein. Nicht selten führen wir auch tiefgründige Gespräche über unsere Familien, Kulturen, Werte oder den Bürgerkrieg im Yemen. Ich lerne einiges über die Wahrnehmung von Deutschland im Ausland, über andere Nationen und Religionen. Ich erkenne, was Respekt und Toleranz im direkten Zusammenwohnen und -arbeiten wirklich bedeuten. Auch wenn wir teils sehr unterschiedlich aufwachsen, einigt uns der innere Antrieb, Europa und die Welt ein bisschen besser zu machen. Wir sind mutige, junge Menschen, die zu Zeiten einer weltweiten Pandemie in ein eher armes EU Land reisen, um sich einzubringen.

Each one of us can make a difference, together we can make change.“

Die Hauptaufgabe des Deep Roots Teams ist die Planung und Durchführung des Eco Festivals 2020. Dieses umfasst verschiedene Programmpunkte über die Sommerzeit. Für Kinder organisieren wir regelmäßige Workshops im Rosarium, dem Park der Kleinstadt. Mit Kinderschminken, Straßenmalerei, Basteln, Musizieren, Spielen, Tanzen begeistern wir Groß und Klein. Wir stellen Grußkarten, Papierfaltfiguren, Armbändchen, Haarschmuck und Tragetaschen her. Für Erwachsene gibt es einen Flohmarkt und Info-Veranstaltungen wie etwa zur Zero Waste Philosophie (bspw. die Vermittlung der 5 Rs: Refuse, Reduce, Reuse, Repair, Recycle). Wir zeigen, wie im Handumdrehen Zahnpasta und Waschpulver selbst hergestellt werden können.

Wir, das Deep Roots Team in unseren hellgrünen Shirts, gehen als Vorbild voran. In Landschaftsschutzgebieten wie dem nahen Kobrinka Lake oder in unserem Wohngebiet sammeln wir Müll. Nach einer spannenden Führung durch die Fertigungshallen des Musikinstrumente-Herstellers Kremona streichen wir den Außenzauns neu und farbenfroh an. Wir besuchen eine Kläranlage und drehen ein Kurzvideo über den Verarbeitungs- und Aufbereitungsprozess von Wasser. In einer Behinderteneinrichtung basteln und backen wir. Da wir kaum bulgarisch verstehen, verständigen wir uns mit Zeichensprache, was ausgesprochen gut funktioniert. Wir besuchen ein Tierheim und bringen auch hier mehr Farbe in den Alltag mit bunten Hundehütten und selbst verzierten Schlaf-Autoreifen. 

In unserer Freizeit gehen wir schwimmen, reiten, campen. Viele sind beim sonntäglichen traditionellen Tanz in der Fußgängerzone von Kazanlak regelmäßig mit dabei. An freien Wochenende planen wir Ausflüge, fahren ans Meer oder in die Berge. Bulgarien ist vielfältig und landschaftlich wunderschön. Mit zahlreichen kommunistischen Denkmählern, Gebirgsketten und dem Schwarzen Meer ist es ein recht günstiges und allemal lohnendes Reiseland. 

Weiterführende Informationen: 

https://europa.eu/youth/solidarity

Deep Roots Blog: 

https://theyouth.info/blog/eco-thinking/deep-roots-2020-blog/